Das rote Tuch

 
7 Mag ich
1 Sekunde

Wahrscheinlich haben wir alle mindestens eins: Ein rotes Tuch, das nur für uns leuchtet und für alle anderen unsichtbar ist.

Mit dem Bild vom roten Tuch meine ich ein ganz persönliches Erlebnis oder einen aktuellen Zustand, das für uns selbst ständig präsent ist. Das kann zum Beispiel ein finanzieller Notstand sein, eine vorübergehende Stress-Situation am Arbeitsplatz oder auch ein traumatisches Erlebnis. Es gibt natürlich auch viele positive Dinge, die uns dauerhaft beeinflussen (wie zum Beispiel Liebe), aber  die negativen führen immer wieder zu zwischenmenschlichen Konflikten.

Wie kannst du nur dieses Thema ansprechen?

Mir ist häufiger aufgefallen, wie Menschen – ich nicht ausgenommen – gereizt oder verletzt reagieren, wenn man offensichtlich dieses rote Tuch nicht beachtet. Es ist eben nur für den Betroffenen so leuchtend präsent, sodass derjenige sich denkt: Siehst du es denn nicht?

Als Beispiel könnten wir uns folgende Situation vorstellen. Person A trifft Person B zufällig auf der Straße, sie reden kurz miteinander und dann sagt A: „Hey, wir haben schon lange nichts Schönes mehr miteinander unternommen. Möchtest du mit mir heute Abend gemütlich am Kantplatz essen gehen?“

Beim Beispiel des finanziellen Notstands denkt sich B: Du weißt doch, dass ich dafür kein Geld habe?!
Beim Beispiel des Stresses am Arbeitsplatz denkt sich B: Du weißt doch, dass ich momentan dafür keine Zeit habe?!
Beim Beispiel des Traumas denkt sich B: Du weißt doch, dass ganz nah am Kantplatz der furchtbare Unfall passiert ist?!

In allen drei Beispielen fühlt sich Person B verletzt vom offensichtlichen Unverständnis, könnte daraufhin entweder schweigen oder gereizt antworten. Aber Person A merkt in den meisten Fällen auch dann nicht, dass sie ein rotes Tuch angesprochen hat.

Kommunikation zwischen Eingeweihten

Mir geht es ganz speziell um Beziehungen zwischen Menschen, bei denen der eine theoretisch über die Situation des anderen informiert ist. Nur dass diese Info beim Gegenüber ganz weit unten irgendwo gespeichert ist und eben nicht annähernd so präsent ist wie für den Betroffenen.

Was ich eigentlich sagen möchte: Vielleicht sollten wir uns alle auf der einen Seite bewusster über eigene rote Tücher werden und über die Tatsache, dass sie nur für uns so leuchten. Auf der anderen Seite sollten wir uns vielleicht auch mehr mit möglichen roten Tüchern unserer Mitmenschen beschäftigen und auch Verständnis zeigen, wenn jemand aus eigener Sicht „überreagiert“. Das stärkt die Beziehung und reduziert negative Gefühle.

Corinna Günther

Ich bin eine sprachbegeisterte Hobby-Fotografin mit Liebe zum Detail. Seit der Lektüre von Pascal Merciers "Nachtzug nach Lissabon" verliebt in die Philosophie, möchte ich das Leben im Alltag mit mehr Achtsamkeit beobachten, genießen und verknüpfen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.