Außen hui, innen pfui

 
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Kommentar zu den aktuellen Demonstrationen in der Türkei    (16. Juni 2013)

Man muss Frieden machen, solange man noch kämpfen kann! Diese Parole stammt aus den 1968ern, könnte aber sehr gut für die momentane Protestbewegung in Istanbul stehen. Die türkischen Demonstranten im Gezi-Park erinnern in einigen Punkten an die Studenten der 68er-Revolution: Sie singen, sie zelten und wollen einfach nicht mehr weg gehen.

„Mütter, Väter, bitte holt eure Kinder von dort weg“, richtet sich Erdogan am Donnerstag an die Eltern der meist jungen Protestanten. Und zeigt dadurch, wie wenig ernst er diese nimmt. Wie überfordert er von der neuen Situation ist. Denn da sind plötzlich so ein paar Störenfriede, die lieber im Park als im warmen Bett übernachten. Die ihm auch nicht den gewohnten Respekt zollen. Der Ministerpräsident wittert eine Verschwörung. Auf solche irrsinnigen Ideen können diese jungen Menschen doch nicht alleine gekommen sein. „Tayyip, du hast alle vereint“ ist auf Spruchbändern und Hauswänden zu lesen. Denn die Demonstranten setzen sich aus völlig unterschiedlichen Gruppen zusammen, von Kurden und Aleviten über Schüler und Studenten bis hin zu Bankiers und Anwälten. Eben aus allem, was die Türkei an Gegenstimmen zur Regierung zu bieten hat.

Opposition, das Wort kennt der Ministerpräsident nicht – der Mann, der häufig von sich selbst in der dritten Person spricht. Seit seiner überragenden Wiederwahl mit knapp 50% der Wählerstimmen im Jahr 2011 verliert Tayyip Erdogan mehr und mehr den Bezug zur Realität. Lange Zeit galt er als der Mann, der die Wirtschaft des Landes ankurbelte wie niemand zuvor. Türkischer Turbokapitalismus durch radikalen Städte-Umbau und Staudammprojekte in Anatolien. Doch während die Türkei sich nach außen hin wirtschaftlich liberal und modern präsentiert, leiden im Inneren die Bürger unter der zunehmenden Unterdrückung. Der geplante Bau des Shopping-Centers im Gezi-Park hat der Heuchelei nur die Krone aufgesetzt.

Ganz im Vorbild der 68er Generation stellen die Demonstranten in Istanbul die herrschenden Vorstellungen von Modernität in Frage. Ohne gewisse Grundrechte wie Meinungsfreiheit oder Säkularismus ist auch die liberale Wirtschaft für seine Bürger nicht viel wert. Stattdessen sorgen Kulturaufseher für Zensur, neue Gesetze für Frauenunterdrückung und nun Wasserwerfer für ansteigende Wut. Staatliche Gewalt hat auch die 68er nicht in die Knie gezwungen. Und solange sie noch friedlich kämpfen können, werden auch die türkischen Protestler nicht in ihre warmen Betten verschwinden.

Corinna Günther

Ich bin eine sprachbegeisterte Hobby-Fotografin mit Liebe zum Detail. Seit der Lektüre von Pascal Merciers "Nachtzug nach Lissabon" verliebt in die Philosophie, möchte ich das Leben im Alltag mit mehr Achtsamkeit beobachten, genießen und verknüpfen.

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