Ärztliches Gutachten für Mutter Natur
Einst sprach ein ein kluger Mann im Jahre 1911 von einem „Schnupfen“1, seitdem hat sich die Krankheit durch unsachgemäße Behandlung in eine bemerkenswerte Grippe verwandelt.
Diagnose: akute Menschenallergie. Natur zeigt deutlich immense Missbrauchserscheinungen auf. Wohin sie auch flieht, die Menschen treten sie mit Füßen und entladen ihren Müll bei ihr. Früher war dieser noch selisch bedingt, als arme Romantiker ihren Liebeskummer den Bächen und Bäumen anvertrauten. Heute jedoch geht der Übergriff weit darüber hinaus. Manchmal wünscht sich Natur die guten alten Zeiten zurück, wo sie wenigstens noch gern besucht wurde. Nun leidet sie sogar an psychischen Störungen, weil sie zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt bekommt – selbst die Kinder, deren Lachen sie schmerzlich vermisst, werfen ihr höchstens einen flüchtigen Blick durch sterilisierte Fensterscheiben zu.
Natur ist eindeutig überarbeitet. Obwohl sie Anzeichen des Helfersyndroms aufweist – erholt sie sich doch nach jedem schweren Schlag wieder und kämpft um ihre Gesundheit um die der Menschen zu retten – sehe ich auf Dauer keine Möglichkeit, den absehbaren Zusammenbruch des angeschlagenen Patienten zu verhindern. Trotz ihres starken Charakters treibt ihr Leiden sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit.
Ich verschreibe hiermit Natur dringende Ruhe und regelmäßige gut gemeinte Besuche ihrer Schützlinge. Zudem bitte ich die große Menge infizierter Menschen in Quarantäne zu stecken, um eine weitere Verbreitung der ansteckenden Krankheit zu verhindern.
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1 Jacob van Hoddis: Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.